Bericht zur Reise von Martin Hennings Redaktionsleiter Schwäbische Zeitung Lokalredaktion Markdorf:

 

„Hast Du meine Masha noch gesehen?“

UFA - Ein halbes Jahr und drei Tage nach dem Flugzeugzusammenstoß nahe

Überlingen hat am Samstag, 4. Janaur, eine 128-köpfige Delegation vom

Bodensee auf dem Südfriedhof von Ufa der 71 Toten des Unglücks gedacht.

Die Regierung der russischen Republik Baschkirien hatte die Helfer

eingeladen.

Von unserem Redakteur Martin Hennings

Er hat sich lange überlegt, auf welches der über 50 Gräber — jedes bunt

und mit einer Fotografie des Toten geschmückt — er seine Nelke legen

sollte. „Ich habe mir eins ausgesucht, bei dem keiner stand“, erzählt der

Feuerwehrmann später. Auch Stunden danach schimmern seine Augen wässrig.

Als er die Blume ablegt, tippt ihm ein Mann auf die Schulter. „Warum hast

Du dieses Grab ausgesucht? Hast Du meine Masha noch gesehen?“ Tränen

ersticken die Antwort, die Männer umarmen sich schweigend.

Es sind ein Feuerwehrmann aus dem Bodenseekreis und ein baschkirischer

Vater, dessen Tochter beim Flugzeugzusammenstoß am 1. Juli 2002 bei

Überlingen getötet wurde, die sich da auf dem riesigen Südfriedhof der

baschkirischen Hauptstadt Ufa in den Armen liegen. Kurz zuvor ist eine

Gedenkfeier für die 71 Opfer des Unglücks — 60 von ihnen kamen aus

Baschkirien, darunter 45 hochbegabte Kinder — zu Ende gegangen. Dazu

trafen sich Angehörige der Opfer und die Delegation vom Bodensee, die zehn

Tage lang die russische Republik bereist.

Für die Deutschen ist der Besuch der Stelle, an der fast alle

baschkirischen Opfer des Unglücks die letzte Ruhe gefunden haben, der

traurige Höhepunkt ihrer Reise, die sie 3400 Kilometer nach Osten in den

Südural geführt hat. Und für viele auch das Ende eines langen

Verarbeitungsprozesses. Die meisten der 128 haben in den Tagen nach dem 1.

Juli Tiefsitzendes erlebt: Augenzeugen des Unglücks, Polizisten,

Feuerwehrmänner, Sanitäter, Angehörige des Technischen Hilfswerks (THW),

die im 30 Quadratkilometer großen Trümmerfeld auch die Überreste der

Kinder fanden, die sich eigentlich in Barcelona erholen wollten,

Dolmetscher, die die Angehörigen beim Besuch der Unglücksstelle gestützt

haben, Verwaltungsleute, die die administrative Bewältigung des

Unfassbaren organisieren mussten.

Für Baschkirien ist die Einladung der Deutschen — das wird bei jeder

Gelegenheit betont — ein großes Dankeschön. Die Helfer sind in

Spitzensanatorien untergebracht, man will den Gästen vor allem Erholung

bieten. Als Polizisten und Feuerwehrmänner baschkirische Kollegen

besuchen, werden sie mit Geschenken überschüttet.

Auf Ufas Südfriedhof sind die Gräber der Toten des 1. Juli so angeordnet,

wie die Opfer in dem Moment saßen, als ihr Flugzeug rund 12 000 Meter über

dem Bodensee mit einem Frachtjet zusammenstieß. Einen Kranz mit

kyrillischer Inschrift haben die Deutschen mitgebracht. Von Verbundenheit

und Mitleid ist die Rede in den Ansprachen, die der Friedrichshafener

Polizeichef Hans-Peter Walser als Delegationsleiter und der baschkirische

Elternvertreter Sulfat Hammatow halten. Während der Rest der Delegation

„Dona nobis pacem“ (Gib uns Frieden) singt, streuen 18 deutsche

Jugendliche auf jedes Grab Erde aus Brachenreuthe, dem Ort nahe

Überlingen, an dem die meisten toten Kinder gefunden wurden. Außerdem

haben sie für jedes Opfer eine Kerze und eine Nelke dabei.

Wie brutal die Kinder aus dem Leben gerissen wurden, wird beim

anschließenden Besuch der „Schule Nummer Drei“ deutlich. Alina, Karina und

ihr Bruder Ruslan, Gulnaz, Lejsan, Darja und Sofia wurden hier

unterrichtet. Jetzt hängen die Fotos der 12- bis 15-Jährigen im

Schulmuseum. „Sie werden immer in unseren Herzen bleiben“, sagt ein

Mitschüler.

Während Kleider-, Spielzeug- und Geldspenden in ein Waisenhaus gebracht

werden, überreicht die deutsche Delegation in der Aula der „Schule Nummer

Drei“ symbolische Geschenke an die Eltern: eine Gedichtsammlung der

Autorin und Augenzeugin Gisela Munz-Schmid; selbst gezogene Kerzen der

Heimsonderschule Brachenreuthe, neben der ein Rumpfteil des baschkirischen

Flugzeugs niederging; ein Bild der Überlinger Malerin Daniela Einsdorf zu

dem Gedicht von Soja Fedotowa "Ich fiel von der Mondsichel" mit

der Unterschrift aller deutschen Gäste auf der Rückseite. Und für jede

Familie eine Osterglocke.

Ganz hinten im Saal steht Julia Fedotowa. Das Bild ihrer 15-jährigen

Tochter Sonja hängt im Schulmuseum. „Ich bin zum ersten Mal wieder hier

seit dem Unfall“, erzählt sie. „Vorher habe ich es nicht geschafft.“

Zusammen mit dem deutschen Anwalt Michael Witti vertritt die Juristin die

Schadenersatzansprüche der meisten Eltern: „Ein harter Job für mich.“ Ihre

Stelle bei der Regierung habe sie deswegen aufgegeben. Der heutige Tag sei

für sie „gut und schlecht“, sagt sie. „Gut, weil ich die Menschen sehe,

die geholfen haben. Und schlecht, weil bei mir all die schlimmen Dinge

wieder hochkommen.“ Sie ringt um Fassung, dann kommt Sonjas siebenjährige

Schwester Dina um die Ecke und hält die Mama ganz fest. „Glauben Sie mir,

ich möchte alle diese Menschen für ihre Hilfsbereitschaft küssen“, sagt

Julia Fedotowa. „Ich kann es aber nicht, weil ich so weinen müsste.“

Dass die Hilfsbereitschaft und die Verbundenheit zwischen Angehörigen und

Helfern weit über die Tage nach dem 1. Juli hinaus trägt, zeigt eine Szene

am Rande der Gedenkfeier auf dem Friedhof. Trotz eisiger Temperaturen

kniet eine Mutter vor dem Grab ihres Kindes, weint und sackt in sich

zusammen. Sofort ist die Frau von Baschkiren und Deutschen umringt. Vera,

die kleine Tochter einer vom Bodensee angereisten Dolmetscherin, umarmt

die Frau, streichelt ihren Kopf. „Sie war so traurig, da musste ich doch

trösten“, sagt Vera.

 

 

"Die Leute wollen einen, der den Laden zusammenhält”

UFA – Baschkortostan beschreiben? Weit, unendlich weit. Und kalt. Arm, für

unsere Verhältnisse. Trotzdem ist hier ein Festessen ein Festessen. Zehn

Tage lang war eine 128-köpfige Delegation vom Bodensee - Helfer nach dem

Flugzeugabsturz bei Überlingen am 1. Juli 2002, die die Regierung der

russischen Teilrepublik zum Dank eingeladen hat - im Land unterwegs.

Vieles blieb fremd und rätselhaft. Nicht nur die politischen Verhältnisse

in Baschkortostan.

Von unserem Redakteur Martin Hennings

Eins ist sicher: Wer hier nachts auf einer Landstraße mit dem Auto liegen

bleibt, der hat ein Problem. Es ist bitterkalt, dieser Tage stürzte das

Thermometer binnen Stunden um über 15 Grad auf minus 21. Handyempfang ist

pure Glückssache. Verkehr gibt es nachts kaum - wegen der Schlaglöcher,

erklärt man uns. Zwischen den kleinen Dörfern mit den dicht

aneinanderliegenden, eingeschossigen Holzhäusern liegen oft viele, viele

Kilometer schneebedeckte, im mindestens sechsmonatigen Winter unberührte

Felder, immer wieder unterbrochen durch Birkenreihen. Sehen würde das der

Liegengebliebene nicht, außerhalb der Weiler ist das Land nachts mit so

tiefer Dunkelheit überzogen, wie sie im dicht besiedelten Deutschland

allenfalls mitten im Wald zu erleben ist.

Im Dunkeln bleiben für die Delegation auch die politischen Verhältnisse im

Land. Zweifellos ist Baschkortostan - doppelt so groß wie Bayern, vier

Millionen Einwohner - Teil der russischen Föderation. Dass der lange Arm

Putins auch bis hierher reicht, zeigt ein Blick in die Zeitungen: Der

Kremlchef fährt nahe der Hauptstadt Ufa Ski, die Blätter sind voll davon.

Sicher ist aber auch, dass Murtasa Gubeidulowitsch Rachimow ein wichtiger

Mann in Baschkortostan ist. Bei Empfängen vergisst kein Funktionär, die

Verdienste des Präsidenten der Republik zu loben. Dass es bei der

Wiederwahl des starken Mannes vor einigen Jahren keinen echten

Gegenkandidaten gegeben haben soll, ist bei den offiziellen Begegnungen

kein Thema.

Zugleich erzählen Dolmetscher – nicht die offiziellen, sondern die, die am

Bodensee zuhause sind – dass Rachimow auch mit Gegenkandidaten die Wahl

gewonnen hätte: “Die Leute wollen eine starke Führung, einen Mann, der den

Laden zusamenhält.” Man darf nicht vergessen, dass es hier, anders als in

Deutschland, keinen reichen Bruder im Westen gibt, der nach der

politischen Wende funktionierende Demokratie und leistungsfähige

Verwaltung gleich mitbrachte. Wer zu Sowjetzeiten was zu sagen hatte, ist

vor allem in der Provinz auch heute noch oft obenauf.

Dass der Besuch aus Deutschland für die baschkirische Seite wichtig ist,

zeigt sich an vielen Stellen. Zunächst einmal an der Herzlichkeit und der

Gastfreundschaft, mit der die Helfer vom Bodensee immer wieder empfangen

werden. Aber auch daran, dass jeder Ausflug mit dem Bus von mindestens

einem, meist mehreren Polizeiautos begleitet wird. Wer Konkretes über

Machtstrukturen fragt, bekommt blumige, allgemeine Antworten. Als sich

deutsche Rotkreuzmitarbeiter mit hiesigen Kollegen treffen wollen, hat der

baschkortische Delegationsleiter schriftliche Ausführungen dabei, die

augenscheinlich von irgendeiner Behörde vorab genehmigt worden sind. Es

geht aber auch anders: Bei zwei Treffen von Feuerwehrleuten sind

protokollarische Spielregeln ganz schnell vom Tisch. Auf dem wäre auch

kaum mehr Platz, vor lauter Essen und Wodka.

Im Verlauf der Reise wird immer deutlicher, dass die Regierung steuern

will, wen wir wann treffen. Dass Delegationsmitglieder auf eigene Faust

von der abgelegenen Nobelunterkunft in ein ganz normales Dorf gehen,

erzeugt bei den Gastgebern alles andere als freudige Zustimmung. Und als

einer aus der Reisegruppe zu einem privaten Abendessen gebeten wird,

dauert es zwei Stunden, bis es dafür grünes Licht von oben gibt. Der

Einladende sei nicht “sicher”, heißt es. Ob es dabei um die Sicherheit des

Deutschen oder die politische Zuverlässigkeit des Baschkiren geht, bleibt

offen.

Vom alltäglichen Leben in Baschkortostan bekommen die Besucher aus dem

reichen Westen nur einen ganz vagen Eindruck. Auffällig ist, dass an

vielen Kirchen und Moscheen gebaut wird. Religion darf sich jetzt offenbar

frei entfalten. Zugleich steht Lenin in vielen Dörfern immer noch auf

seinem Sockel. Fließend warmes Wasser ist nicht die Regel. Was hier als

Klopapier verwendet wird, ginge in Deutschland vielleicht als Packpapier

durch. Der Lebensstandard der Menschen hier ist mit dem in Deutschland

nicht zu vergleichen. Innerhalb Russlands allerdings zählt die Republik zu

den reicheren Gegenden. Bodenschätze, vor allem Erdöl, und die

Landwirtschaft haben zu bescheidenem Wohlstand geführt. Laut

baschkortischer IHK liegt die nach russischen Maßstäben kleine Republik

landesweit auf Platz sechs, gemessen am Industrievolumen.

Was bei der Delegation hängen bleiben wird, ist die Offenheit, die

Unvoreingenommenheit, die Wärme, mit der die Deutschen bei fast allen

offiziellen und bei allen privaten Begegnungen aufgenommen werden. “Ich

weiß, warum ihr hier seid”, sagt einmal einer zu den Helfern aus

Deutschland und meint den Flugzeugabsturz. “Und deshalb ist es gut, dass

man euch nur das Beste gibt.” Natürlich werden die Gäste beäugt, auch auf

dem Dorfplatz von Jaroslawka, auf dem ein Fest zur russischen Weihnacht

gefeiert wird. Doch es dauert keine zwei Minuten, dann kommt der erste, um

sich bei einem gemeisamen Tässchen Tee aufzuwärmen. “DDR, Güstrow,

Neubrandenburg”, sagt der alte Mann, der offenbar als Rotarmist in

Deutschland gedient hat, und grinst. Und eine Viertelstunde später feuern

Dörfler und Besucher ihre Leute fröhlich und lautstark bei einem

Länderkampf im Tauziehen an. Keine 20 Meter entfernt erinnert ein

mächtiges Denkmal an den deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Jahre

1941. Als es aufgestellt wurde, hätte sich keiner träumen lassen, dass

sich irgendwann einmal in seinem Schatten Deutsche und Russen im Tauziehen

messen.

Martin Hennings     E-Mail: m.hennings@schwaebische-zeitung.de

 

Gisela Munz-Schmidt

 

 

BASCHKIRISCHE SKIZZEN

2003

 

 

 

WINTER-WIRKLICHKEIT

 

Eine Reise, unerwartet und schön

wie ein Wintermärchen,

das dir eine Babuschka erzählt,

und es kommt alles darin vor:

Das Dreigespann und Väterchen Frost,

die Gräber auf dem Friedhof

und das Fest auf dem Dorfplatz,

Konzerte in Kulturhäusern

und Datschen mit Gärten,

Iwan der Schreckliche

und Salavat Julaew,

Lenin und Gorbatschow,

Puschkin und Putin –

Und da sitzt du

mit großen Augen und wachen Ohren,

eingehüllt in den warmen Mantel

lächelnder großherziger Gastfreundschaft.

 

 

 

 

BIRKEN

 

Weiß wachsen die Birken

aus dem Schnee im Winter

und grün im Sommer

aus dem Gras.

 

So zauberhaft sind diese Bäume,

dass ich meinen könnte,

das Gras passe sich an

und ebenso der Schnee.

 

 

FRAUEN IM PELZ

 

Wenn die russischen Fürstinnen

ihren Nerzhut abnehmen

und ihren Pelzmantel ablegen,

sehen sie plötzlich aus

wie du

oder auch ich.

 

 

 

 

 

TROIKA

 

Die äußeren Pferde in der Troika

tragen Scheuklappen,

nur das mittlere blickt ungehindert.

 

Sieht man nur in der Mitte gut?

 

 

 

 

 

SALAVAT

 

Das Heldendenkmal zeigt ihn nicht

als den gefangenen Zwangsarbeiter

mit den abgeschnittenen Ohren

und der gebrandmarkten Haut.

 

Es zeigt den mutigen Freiheitskämpfer

auf seinem stolzen Pferd.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

BRÜCKEN ÜBER DEM FLUSS

 

Der zugefrorene Fluss

schlägt einen großen Bogen

um die Stadt,

darüber die Brücken.

 

Schlafende und immerwache

Verbindungen.

 

 

 

 

 

KINDER

 

Die kleinen Kinder

sind im Winter so eingemummelt,

dass ihnen die Ärmchen gepolstert abstehen.

Wie ausgestopfte Puppen wirken sie,

wären da nicht

die frischroten Wangen

und die flinken Äuglein.

 

 

 

 

TÄNZER

 

Die Tänzer auf der Bühne

machen hohe weite Sprünge

und imponierende Gesten,

kraftvoll bis in die Verbeugung.

 

Die Tänzer auf dem Parkett

packen fest zu,

führen stark

und dulden keine Gegenvorschläge.

 

Aber nach dem Tanz

küssen sie dir die Hand.

 

FESTESSEN

 

Unter den rosettengeschmückten Spanferkeln

biegt sich die Tafel.

 

Fisch, Ei und Kaviar,

Trinkspruch –Nasdarowje

Salate, Aufschnitt, Kraut und Rote Beete,

Trinkspruch Nasdarowje

Rindfleischsuppe und Kartoffeln,

Schweinefleisch und Gelbe Rüben,

Mohn-und Nussgebäck.

Trinkspruch: Bis zum letzten Tropfen!

 

Wann ist endlich Fastenzeit?

 

 

 

DIE FARBEN BASCHKIRIENS

 

Blau, weiß, grün.

Gedanken an Gräser und Bäume.

 

Weiß Schnee und Eis.

Der Himmel birkenhell und blau,

und abends schimmert er rot.

 

Wie Kinderwangen im Winter.

Wie die schmackhafte Suppe.

 

Trauerrot wie die Nelken auf Gräbern.

Tanzrot wie die Stiefel der Steppe.

Erdenrot wie der Stein aus Granit.

Herzrot wie die Wärme der Menschen.

 

Und alle Farben singen

in den Melodien

der gelben Kuraij-Flöte.

 

 


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