Kultur Baschkirens
Die Baschkiren, ein den Tataren verwandtes Turkvolk im Südural, leben vor allem in der russischen Teilrepublik Baschkirien sowie auch in den angrenzenden russischen Gebieten.[1] Die Mehrheit von ihnen lebt auf dem Lande im Osten der Republik in den Dörfern des südlichen Uralgebirges. Diese waldreichen nach Osten hin steppenartig werdenden Bergregionen sind die am wenigsten erschlossenen und dünn besiedeltsten Baschkiriens, aber genau hier liegt die bedeutsame Grenze von Asien und Europa. In den abgelegenen Siedlungen, die oft nur durch unasphaltierte Wege miteinander verbunden und mit keinen öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen sind, haben sich am meisten alte, anderswo verlorengegangene Traditionen bewahrt, So sind viele ursprünglich religiöse Bräuche und Riten, die aus vorislamischen naturrellgiösen Vorstellungen stammen, in den Dörfern bis heute lebendig. Die Baschkiren rechnen sich zwar offiziell überwiegend zu den sunnitischen Muslimen, der Islam spielt aber im täglichen Leben kaum eine Rolle (und war auch früher bei der ehemals halbnomadischen Lebensweise schon immer ein adaptierter Islam, die Verbote und Gebote der Sharia waren nie stark verwurzelt). Wenn die Baschkiren nicht selber von sich behaupten würden, dass sie Moslems seien, würde man es im Alltag kaum bemerken.
Die Baschkiren, die ich auch als besonders lebenslustig und humorvoll kennengelernt habe, feiern wann immer sie einen Anlass finden gerne größere und kleinere Feste. Bei einem zweiwöchigen Aufenthalt in ein und demselben Dorf, fand dort zum Beispiel jeden Tag ein Fest statt. Nie habe ich aber ein speziell islamisches Fest erlebt, diese sind auch kaum üblich (sie finden, wenn überhaupt, nur in kleinem Kreise statt, die meisten sind nur aus Büchern bekannt). Statt dessen werden besonders im Frühjahr und Sommer in großem Rahmen, mit allen Einwohnern eines oder mehrerer Dörfer zusammen, zahlreiche Feste für das Erwachen der Natur und Gedeihen einer guter Ernte begangen, die ihren Ursprung in vorislamischen Vorstellungen haben. In einigen Dörfern in den Gebirgsregionen konnte ich noch sonst vergessene Frühjahrsfeste erleben, die mit dem archaischen Kult der Vögel verbunden sind: das kargatuj "Rabenfest" oder auch karga butkahy "Rabenbrei"‑Fest genannt, oder das Fest käkük säje "Kuckuckstee". Ihnen liegen ursprünglich Vorstellungen zu Grunde über die Fähigkeit der Geister der Verstorbenen sich in Tiere zu verwandeln. Auch habe ich in einem anderen Dorf noch einen Tierstimmenimitator angetroffen, der inzwischen in der Art, in seinem Können und Wissen der einzige und bekannteste in ganz Baschkirien sein soll. Er ahmte frappierend echt, mit der entsprechenden Mimik dazu, vor allein Stimmen verschiedener Vögel nach, am Ende der Vorstellung allerdings in der für die Baschkiren typisch humorvollen Art, Ton und Handhabung eines elektrischen Rasierapparates. Diese Tierstimmenimitatoren waren früher weiter verbreitet und Bestandteil vieler ritueller traditioneller Feste.
Üblich sind auch noch heute in den Dörfern magische Heilmethoden, die ebenfalls in alten naturreligiösen Vorstellungen ihre Wurzeln haben. So gibt es in vielen Dörfern zwar einen medpunkt, eine Art Apotheke, aber nur selten einen ausgebildeten Arzt/Ärztin. In jeder Siedlung aber findet man mindestens eine, meist mehrere, in der Regel ältere Frauen, die sich auf die alten magischen Heilungsriten und auch auf Zukunftsvoraussagen verstehen. So ist bis heute in Spuren noch die alte Vorstellung erhalten, dass ein Mensch mehrere Seelen (drei oder vier) hat. Das Wegfliegen einer dieser Seelen oder Uneinigkeiten zwischen den Seelen wurde als Ursache vieler Krankheiten oder sogar des Todes angesehen. Das diese Vorstellung bis heute existiert, erlebte ich in einem Dorf, wo eine Mutter mit ihrem Kind, das oft kränklich war, zu so einer alten Frau, die sich auf alte Heilriten verstand, kam. Die alte Frau meinte, dass das Kind drei Seelen hätte, die in Streit miteinander seien, zerriss daraufhin ein Stück Stoff in drei Fetzen, die dann den drei Seelen entsprechen sollten. Diese drei Stoff-Fetzen klemmte sie jeweils drei mal mit der Haustür ein und murmelte Sprüche dazu. Zum Schluss gab sie einen der Stoff-Fetzen der Mutter zur Aufbewahrung und die zwei anderen Fetzen verbrannte sie in ihrem Ofen. "Jetzt", so sagte sie am Ende "hätte das Kind nur noch eine Seele." Dieselbe alte Frau erzählte mir auch, dass bei Menschen, die einen großen Schreck oder Angst bekommen, die (eine) Seele aus dem Körper weg fliegt. Sie könne dann diese Seele wieder zurückholen. Als Ursache von Krankheiten werden daneben bei den Baschkiren auch heute noch "der böse Blick" oder böser Klatsch und Verfluchung angesehen. Eine andere Frau kam in dem selben Dorf zu derselben alten Frau, da sie meinte durch bösen Klatsch krank geworden zu sein. Die alte Frau schnitt daraufhin sieben verschiedenfarbige Fäden in der Länge der Körpergröße der Frau zu, bündelte sie und machte 41 Knoten in den Fadenstrang (Farbe und Zahlen haben ebenfalls magische Bedeutung). Dann schnitt sie diesen Strang nach jedem Knoten, also 41 mal, mit der Schere durch und murmelte Formeln dazu, die soviel bedeuteten, dass niemand mehr schlecht über sie reden werde. Zum Schluss wickelte sie die abgeschnittenen Fadenteile in ein Stück Papier, gab es der Patientin, die dieses Päckchen in ihre Jacke einnähen sollte. Auch zur Vorsorge, damit man erst gar nicht krank wird, gibt es die verschiedensten Bräuche. So werden besonders zur Abwehr gegen den bösen Blick oft bestimmte Äste über den Eingang gehängt. Noch einer Reihe von weiteren Heilungsriten, in >anderen Dörfern und bei anderen Großmüttern habe ich beigewohnt: Häufig praktiziert wird zum Beispiel das 'Spucken in Begleitung mit Beschwörungsformeln', wobei hier auch Suren aus dem Koran zitiert werden können ('eines der seltenen Zeichen des adaptierten Islam). Weit verbreitet bei den Heilerinnen ist auch das Vorraussagen der Zukunft mittels dem Ritus nokul, bei dem mit Häufchen aus Steinen, die nach bestimmten Regeln immer wieder neu gezählt und sortiert werden, die Zukunft entsprechend der sich ergebenden Zahl der Steine gedeutet wird. Noch zahlreichen anderen Riten, zur Zukunftsvorhersehung, Krankenheilung, Abwehr und Vertreibung böser Geister oder unguter Auren, begegnet man in den baschkirischen Dörfern.
Die älteren Frauen sind auf dem Lande allerdings nicht nur als Heilerinnen und Erhalterinnen dieser alten magischen Riten tätig, sondern sie sind überhaupt (auch die, die sich nicht auf die Heilkunst verstehen) recht aktiv und werden bei meist guter Gesundheit ziemlich alt. Ich habe viele fitte über 90‑Jährige getroffen, während Großväter seltener sind, da sie oft frühzeitig an den Folgen des reichlichen Wodkakonsums sterben. So tun sich die Großmütter in sehr vielen Dörfern auch zu eigenen "Großmutterfolkloregruppen" zusammen. Sie halten damit alte Bräuche, die sonst in Vergessenheit geraten würden, aufrecht, indem sie Theater einstudieren und vorspielen, deren Inhalt alte Fest‑ und Hochzeitsriten sind, wie sie sie noch zu ihrer Kindheit erlebt haben. Dazu schneidern sie sich selber ihre traditionellen Kostüme. Getanzt und gesungen wird dabei immer. Viele dieser Großmuttergruppen gehen sogar auf Tourneen. Die Großmütter einer Gruppe von Askarowo (siehe Foto: Hauptort in einem Rayon im südöstlich auslaufenden Uralgebirge) sagten mir, dass sie schon in verschiedenen Rayonen Baschkiriens aufgetreten seien und einmal sogar in Kasan, der Hauptstadt der tatarischen Republik.
Die Baschkiren sind überhaupt besonders Musik‑, Gesangs‑ und Tanzfreudig. Bei den vielen Festen sowieso, aber auch ohne besonderen Anlass wird gesungen und getanzt ‑ und wenn es nur an der Bushaltestelle ist, um sich die Wartezeit zu vertreiben (in vielen Rayonen gibt es nur eine Teerstraße mit einer Buslinie). Auch beim Tanz zeigen sich die Großmütter besonders aktiv. Meist sind sie die ersten, die zu tanzen beginnen. Fast überall, wo ich zu Besuch war, tanzte die Großmutter oft gleich zur Begrüßung ein kleines Tänzchen, auch ohne Musik, mit den für den baschkirischen Tanz charakteristischen rhythmischen Schritten (ähnlich dem Flamenco). Jede hat irgendeinen bestimmten Rhythmus, den sie besonders gut kann. Die rhythmisch gesteppten Schritte sollen ihren Ursprung im Imitieren des Galopps der Pferde haben. In vielen Dörfern gibt es bekannte Musik‑ und Tanzensembles (meist mit einer Großmutter dabei) und in jedem Dorf sind irgendwelche bekannten Musiker und Tänzer beheimatet. In der Regel können die Musiker in den Dörfern keine Noten lesen, sind nie in eine spezielle Musikschule gegangen, sondern haben ihr Können von Verwandten, Eltern oder Geschwistern gelernt. Deswegen haben sich zum Teil sehr alte Musik‑ und Gesangstraditionen erhalten. Auch viele Lieder und Tänze haben ihren Ursprung in alten vorislamischen totemistischen Vorstellungen und Riten. Die Texte der Lieder und die Darstellungen der Tänze handeln von Tieren, meist von Vögeln, die vermenschlicht sind.
Eva Flashar
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Zu meiner Person
Studium der Turkologie, Ethnologie und Mittelasienwissenschaften. In Baschkirien war ich für Forschungen zu verschiedenen Themen insgesamt drei mal (1993, 1995 und 1997) für jeweils mehrere Monate. Neben Forschungen zu verschiedenen Themen, unter anderem auch für meine Magisterarbeit zu den Frühjahrs‑ und Sommerfesten, habe ich auch sehr viele Aufzeichnungen von Musik und Tänzen gemacht, wovon ich zwei Sendungen über baschkirische Musik im Radio Bern gestaltet und moderiert habe. Auch von mir mit einer Videokamera aufgenommene Filme zu den verschiedenen Themen sind entstanden. In München habe ich auf einigen Veranstaltungen baschkirische Tänze vorgeführt (die ich unter anderem von einem Tänzerehepaar, bei denen ich länger wohnte, gelernt habe) und Diavorträge über meine Baschkirienreisen gehalten.
[1] Die Baschkiren bilden als Titularnation mit 24% der Einwohner nach den Russen und Tataren aber nur die drittstärkste Bevölkerungsgruppe der Republik.
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