Gebet zur Kranzniederlegung in Brachenreuthe am 2.7.2003
Gottheit, tief verborgen, betend nahen wir uns Dir.
Höre unser Klagen:
Immer noch, immer wieder, so auch jetzt in dieser Stunde, hier an diesem Ort klagen wir um die Kinder, um die Mütter und Väter, um die Lebenspartnerinnen und – partner, um Alle, die ihr Leben verloren haben beim Unglück am nächtlichen Himmel über uns.
Sieh auf die Schmerzen der Trauernden, lindere ihre Not, tröste ihre wunden Seelen, heile ihren Leib.
Gottheit, tief verborgen, klagend nahen wir uns Dir.
Gottheit, tief verborgen, bittend nahen wir uns Dir.
Höre unsere Bitten:
Lass all die Opfer, um die wir bitterlich klagen, die wir so vermissen, Dir ganz nahe sein in Deinem Reich, Deiner Wirklichkeit, Deinem Paradies. Schenke ihnen Dein ewiges Leben in vollkommener Freude und Fülle.
Wir bitten auch für uns, vor allem für unsere Schwestern und Brüder, die um ihre Liebsten trauern.
Wann immer die Schatten des Todes Macht gewinnen wollen über uns, erfülle unsere Herzen mit Hoffnung und mit der Kraft des Glaubens, damit wir uns öffnen können dem Leben und es mit Kraft und Vertrauen gestalten für uns, unsere Kinder und Kindeskinder und für die Welt.
Gottheit, tief verborgen, bittend nahen wir uns Dir.
Gottheit, tief verborgen, dankend nahen wir uns Dir.
Höre auch unseren Dank:
In all unserer Klage, in all unserer Not, nach aller Bitte, sprechen wir auch unseren Dank aus für jede Hilfe, die uns geschenkt wurde, hier an diesem Ort und unter diesem Himmel, bei der Suche und Bergung, bei der Identifizierung und wo immer. Wir haben Hilfe bekommen hier, in unseren Heimaten, aus aller Welt, wo sich Herz und Hände weit geöffnet haben für unsere Toten und auch für uns Lebende. Und wir danken Dir auch, dass die Menschen hier am Bodensee von einer noch größeren Katastrophe bewahrt worden sind.
Gottheit tief verborgen, dankend nahen wir uns Dir.
Gottheit, tief verborgen, betend, klagend, bittend, dankend nahen wir uns Dir.
Gib unseren Verstorbenen die ewige Ruhe, das ewige Licht leuchte ihnen und lass sie ewig leben in Frieden.
Amen.
„Die schwersten Wege
werden alleine gegangen,
die Enttäuschung, der Verlust,
das Opfer,
sind einsam.
selbst der Tote der jedem Ruf antwortet
und sich keiner Bitte versagt
steht uns nicht bei
und sieht zu
ob wir es vermögen
die Hände der Lebenden die sich ausstrecken
ohne uns zu erreichen
sind wie die Äste der Bäume im Winter.
Alle Vögel schweigen
Man hört nur den eigenen Schritt
und den Schritt den der Fuß
noch nicht gegangen ist aber gehen wird.
Stehen bleiben und sich Umdrehen
hilft nicht.
Es muss gegangen sein.“
Selbst die Dichterin Hilde Domin kann uns in diesen Zeilen nur ein Stück weit mitnehmen auf den Weg, den die trauernden Eltern und Angehörigen der 71 Todesopfern gehen mussten; es ist einer der schwersten Wege, der uns Menschen zugemutet wird. All unsere helfenden Hände, die unsere Herzenskräfte zart und einfühlsam zum Ausdruck bringen wollten, blieben doch weithin wie entlaubte Äste der Bäume im Winter, auf denen kein Vogel singt. Und doch: stehen bleiben und sich umdrehen ist menschenunmöglich, ist kein gehbarer Weg für die Trauernden und keiner für die Menschen, die in irgendeiner Weise getroffen wurden von der Katastrophe, die sich über Owingen/Überlingen ereignet hat.
In dieser letztlich unauflösbaren Spannung haben tausende Helferinnen und Helfer getan, was sie konnten und haben loslassen müssen jede Hoffnung auf Rettung von Leben. Dass alle 71 Todesopfer gefunden und geborgen werden konnten, war den ruhelosen und unermüdlichen Suchenden zu verdanken, die trotz aller Erschöpfung nicht stehen geblieben sind, und auch dem gnädigen Schicksal oder wie immer wir das nicht Machbare, nicht Einklagbare benennen möchten.
Dass alle 71 Todesopfer identifiziert werden konnten und dass alle Eltern und Angehörigen ganz sicher sein können, dass die ihr eigenes Kind bestattet haben und jede Familie ihre Ihnen angehörigen Toten, ist der präzisen kriminalistischen Untersuchungsarbeit vieler Kriminalbeamten zuzurechnen, denen ich mich als ehemaliger Kollege und nach mancher gemeinsamer Kommissionsarbeit besonders nahe gefühlt habe. Dass dabei in aller Präzision die Menschlichkeit nicht nur nicht auf der Strecke geblieben ist, sondern sich in sehr berührender Weise geradezu offenbart hat, erfüllt mich noch heute mit dem starken Gefühl der Dankbarkeit und der inneren Sicherheit, dass an den Auffindstellen draußen in der Natur und in den "Katakomben" der Stadt, im liebevoll geschmückten Stollen von Überlingen, das Menschenmögliche geleistet wurde, in großer Würde und tiefer Liebe zum Leben und im spürbar sehr belastenden Respekt vor der Macht und Unerbittlichkeit des Todes. Auch dort im Stollen mussten die Wege gegangen werden, allein und in Gemeinschaft mit den Kollegen. Und wenn es mehr als genug Anlässe gegeben hätte, sich umzudrehen , davon zu laufen, hinaus ins Licht zu flüchten, die Kollegen haben ausgehalten bis alle Toten wieder ihren Namen bekommen hatten, den sie letztlich nie verloren hatten, weil deren Namen, wie Muslime und Christen gemeinsam glauben, in die Hand Gottes geschrieben sind, ohne Anfang und ohne Ende.
Dass die Einsatzleitung und die im Stollen verantwortlichen Kriminalbeamten es ermöglicht haben, dass der Imarn die dort aufgebahrten muslimischen Toten im möglichen Maße rituell waschen und mit weißen Tüchern umhüllen konnte, gehört für die trauernden muslimischen Eltern, von denen nur ein Vater stellvertretend für alle Mütter und Väter und Angehörigen dabei sein konnte, zu den ganz wichtigen tröstenden, religiösen Hilfen auf deren so schweren Wegen.
Hilde Domin kann auch diese Dimension beschreiben und sie schreibt in ihrem Gedicht weiter und uns verlierbaren Lebenden in Stammbuch, dass wir alle ohne die Gnade nicht leben können und dass wir darauf hoffen und vertrauen dürfen, dass das Wunder für die 71 Toten von Überlingen geschehen ist und dann auch für uns eintreten wird, wenn unsere Zeit gekommen ist.
„Nimm eine Kerze in die Hand
wie in den Katakomben,
das kleine Licht atmet kaum.
Und doch, wenn du lange gegangen bist,
bleibt das Wunder nicht aus,
weil das Wunder immer geschieht,
und weil wir ohne die Gnade nicht leben können:
die Kerze wird hell vom freien Atem des Tags
du bläst sie lächelnd aus
wenn du in die Sonne trittst
und unter den blühenden Gärten
die Stadt vor dir liegt,
und in deinem Hause
dir der Tisch weiß gedeckt ist.
Und die verlierbaren Lebenden
und die unverlierbaren Toten
dir das Brot brechen und den Wein reichen –
und du ihre Stimmen wieder hörst
ganz nahe
bei deinem Herzen“
Hilde Domin
Werner Knubben, Polizeidekan
Apfelblüten neben dem Flugzeugwrack bei Überlingen
Wir Polizeiseelsorger waren zusammen mit den Polizeiärzten, Polizeipsychologen und den Krisenberatern sozusagen in der 2. Reihe, als es nach dem Zusammenprall der beiden Flugzeuge in der Nacht zum 2. Juli 2002 um die Bergung so vieler Toter aus dem Flugzeugrumpf ging. Wir dienten zur Rückenstärkung und waren bereit, meist schweigend und still mit zu tragen, was zu tragen war und als Ansprechpartner da zu sein, wenn es notwendig wurde. Der Umgang mit so vielen Toten war ja für uns alle eine neue Erfahrung. So verstümmelte tote Menschen, so mit Materie und Wrackteilen ineinander verschmolzene Körper und all das, was an sonstigen Sinneseindrücken zu verkraften war.
Mitten in eine Apfelplantage war der Flugzeugrumpf abgestürzt. Mitten im Sommer hingen schon viele kleine rote Äpfel an den Ästen. Nur an einem Stamm hingen keine Äpfel, sondern Zweige mit wunderschönen Apfelblüten. Als ich diese erblickte, sah ich mich unmittelbar erinnert an das messianische Gedicht aus dem 8. Jahrhundert vor Christus, das der Prophet Jesaja verfasst hat:
„Aus Isais Stumpf aber sprosst ein Reis und ein Schössling
bricht heraus aus seinem Wurzelstock“
Jes. 11,1
Im weihnachtlichen Lied: „Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart“ greifen wir ja diese Weissagung auf und singen weiter: „und hat ein Blümlein bracht mitten im kalten Winter wohl zu der halben Nacht“.
Für die Eltern und nächsten Angehörigen der 71 Absturzopfer wurde es mitten im heißen Sommertag, an dem sie ihre Liebsten am Rande der Apfelplantage beklagen und beweinen konnten, bitterlich kalt und die Nacht der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung drohte sie zu verschlingen. So griffen sie zu jedem Strohhalm der Hoffnung, zu jeder Ähre im Getreidefeld und bargen mit ihren bloßen Händen Muttererde aus dem Owinger Boden, um davon wenigstens eine Handvoll mit nach Hause zu nehmen. Auf diese Erde waren ihre Kinder gefallen und aus dieser Erde wollten sie Hoffnung schöpfen.
In dieser Hoffnung waren an diesem Tag und an diesem Ort die muslimischen Eltern und Angehörigen nicht allein. Die russisch - orthodoxen Geistlichen dachten ihren Weihrauch und ihre Kerzen nicht nur ihren Religionsangehörigen zu, die islamischen Geistlichen ergriffen mit ihren Gesängen und Gebeten nicht nur die Herzen der Muslime und wir deutschen Christen, die auch hier zur Rückenstärkung in der zweiten Reihe standen, teilten unsere Hoffnung und unseren Glauben und versuchten, menschliche Wärme und Anteilnahme zu vermitteln. Für mich entstand hier und an anderen Stellen und Momenten während des Einsatzes in Überlingen vielleicht die wichtigste Erkenntnis: In unserer globalisierten Welt können wir gar nicht überleben ohne Toleranz der Religionen. Es hat mich und manchen anderen, der dabei sein konnte, tief berührt und bewegt, als der Imam Ibrahim Autentasch und ich im Stollen von Überlingen, in den Katakomben der Stadt, wenigstens einen Sarg stellvertretend für alle 71 in Anwesenheit eines trauernden Vaters mit einem weißen Tuch rituell verhüllt haben. Der Gesang aus den Quellen des Korans und die Gebete des Imam sowie mein Totengesang: „Zum Paradies mögen Engel euch geleiten“ haben einem Gott gegolten und ich werde den Moment nicht mehr vergessen, als Ibrahim und ich uns brüderlich umarmt und unter Tränen versichert haben: „Es gibt nur einen Gott !“
Die Menschwerdung dieses einen Gottes feiern wir an Weihnachten.
Und kein noch so großer Aufwand an kommerziellem Kitsch und Kommerz kann das fundamentale menschliche Bedürfnis nach Sinn und ewigem Sinn auslöschen. Wir Menschen brauchen die Zusage, dass wir eine Würde haben, die über bloße Funktionalität hinaus reicht, und dass Gott uns gut geschaffen hat, und uns nicht zugrunde gehen lässt, auch dann nicht, wenn wir vom Himmel stürzen. Der jüdische Gelehrte Schalom Ben-Chorin hat diese Hoffnung auf ewige Liebe und ewiges Leben in seinem berühmt gewordenen Lied besungen und wir können den Apfelzweig von Überlingen im Mandelzweig wieder erkennen, den Schalom Ben-Chorin aus seinem Fenster blickend hin zum Mandelbaumtor in Jerusalem als lebendiges Zeichen der Hoffnung rühmt:
„Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt,
ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?
Dass das Leben nicht verging,
soviel Blut auch schreit,
achtet dieses nicht gering, in der trübsten Zeit.
Tausende zerstampft der Krieg, eine Welt vergeht.
Doch des Lebens Blütensieg leicht im Winde weht. „
Dass Sie, liebe Leserin und Leser dieses Weihnachtsbriefes zu Weihnachten und im ganzen neuen Jahr diese Hoffnungserfahrung machen dürfen, wünschen von Herzen
Werner Knubben Matthias Steinmann
Polizeidekan Kirchenrat
© Freundeskreis „Brücke nach Ufa“ online seit 11/2002
Webmaster
Weitere
Nutzung im Internet oder Veröffentlichung mit Benachrichtigung des
Freundeskreises „Brücke nach Ufa“ und Quellenangabe www.bruecke-nach-ufa.de.
Der Freundeskreis „Brücke nach Ufa“ ist nicht verantwortlich für die
Inhalte externer Internetseiten.
Realisierung mit freundlicher Unterstützung durch CVK-Service / Metz EDV